30 Teilnehmende trafen sich am 5. Oktober 2023, um gemeinsam zu diskutieren, ob und wie die Methode Bürger:innenräte im Rahmen von Infrastrukturprojekten einen Mehrwert für Dialog- und Beteiligungsprozesse schaffen kann.
Michael Baufeld, Vorstandsmitglied der DialogGesellschaft, begrüßte die Teilnehmenden und ordnete ein: Was für die Allgemeinheit wertvoll und notwendig ist, wird in der frühen Öffentlichkeitsbeteiligung häufig kritisch diskutiert. Sachargumente dringen mitunter kaum oder gar nicht durch. Er formulierte die Frage, die viele Dialogverantwortliche für Infrastrukturvorhaben beschäftigt: Können Bürger:innen-Räte die Verfahren der frühen Bürgerbeteiligung zu Infrastrukturen unterstützen und Dialogen neue Impulse verleihen?
Ingrid Felipe, Vorständin der DB Netz AG für Infrastrukturplanung und -projekte teilte in Ihrem Impuls Ihren Blick auf die Methode. Sie schickte voran, dass das Ziel der DB die Steigerung der Akzeptanz für Großvorhaben sei und dass der Auftrag zum Dialog und der frühen Beteiligung der Öffentlichkeit ambitioniert umgesetzt wird. Sie konstatiert, dass dabei Information, Konsultation und Kooperation mit der Öffentlichkeit nicht immer trennscharf seien. Deshalb müssten die Grenzen und Entscheidungsbefugnisse frühzeitig festgehalten und kommuniziert werden. Bezugnehmend auf eigene Erfahrungen verwies sie darauf, dass ein Dialog zwingend alle betroffenen Stakeholder:innen gleichermaßen beteiligen müsse. Sie betonte, dass methodisch sichergestellt sein muss, ein möglichst breites Abbild der öffentlichen Meinung zu beteiligen. Die Herausforderung bestünde darin auch marginalisierte Gruppen und Menschen, die sich aus eigenem Antrieb nicht typischerweise beteiligen, zu involvieren. Die Beteiligung müsse mit einem authentischen Erkenntnisinteresse durchgeführt werden. Dialog sei keine rein rechtliche und vom Gesetzgeber forcierte Formalie. Bürger:innen-Räte können ein Format sein, um den Dialog zu unterstützen, sie schaffen Räume, liefern ein vielfältiges Abbild der öffentlichen Meinung und der Interessen und ermöglichen sachliche Diskussionen, die eine große Bandbreite an Menschen ansprächen – fernab von in den Medien dominanten Parolen. Felipe sieht in Bürger:innen-Räten eine Chance für die Dialogprozesse.
Prof. Dr. Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim folgte mit dem Vortrag „Bürger:innen-Räte: Trend oder überzeugendes Instrument?“ Seine Antwort: Bürger:innen-Räte sind mehr als ein Trend und zeigte auf, welche Rolle Bürger:innen-Räte in der dialogischen Bürgerbeteiligung spielen, was die Besonderheiten sind und welche Erfahrungen mit dieser Methode es in Deutschland gibt. Er stellte dar, dass große Infrastrukturprojekte viele unterschiedliche Konfliktebenen und -potenziale bergen, betonte aber auch, dass es ebenso viele verschiedene Wege gäbe, um mit ihnen umzugehen. Zur Lösung der Konflikte seien die repräsentative Demokratie und deren Institutionen beziehungsweise Vertreter:innen ein zentrales Element. Ergänzend seien direkte demokratische Werkzeuge und die dialogische Bürger:innenbeteiligung unablässig zur Konfliktvorbeugung und -bewältigung. Zur Frage, welche Erfolgskriterien die Wissenschaft benennen kann, nannte er sechs Merkmale:
1. Gestaltungs-Spielräume müssen gegeben sein.
2. Frühzeitiges Einbeziehen der Bevölkerung.
3. Einbeziehung von unterschiedlichen Interessen.
4. Aufgeschlossene und wertschätzende Grundhaltung.
5. Professionelle Prozessgestaltung für Fairness und Transparenz sowie klare Rahmenbedingungen.
6. Eine verständliche Kommunikation.
Prof. Dr. Brettschneider bestätigte, dass Bürger:innen-Räte ein Format sind, um die Positionen eines gesamtgesellschaftlichen Querschnitts zu erhalten und marginalisierte Gruppen gezielt zu involvieren – aber: nie den Anspruch erheben könne, repräsentativ zu sein. Um zusätzliche Beteiligungsmöglichkeiten bereitzuhalten, müsse man ergänzende Angebote, wie z. B. Online-Beteiligungen und Informationsveranstaltungen machen. Abschließend betonte er, dass die Ergebnisse eines Bürger:innen-Rates nicht bindend seien, sondern vor allem prüfenden und beratenden Charakter hätten und stellte einige Beispiele vor.
Im Anschluss stellte Prof. Dr. Tobias Bernecker, Geschäftsführer des Zweckverbands Regional-Stadtbahn Neckar-Alb, den im Sommer 2021 ins Leben gerufenen Bürger:innen-Rat zum Projekt Regional-Stadtbahn Neckar-Alb vor. Für das zuvor heiß diskutierte Projekt wurde durch den Bürger:innen-Rat ein sachlicher und dialogorientierter Diskurs möglich, Alternativen in den Planungen wurden aufgezeigt und zugelassen. Die beteiligten Bürger:innen konnten sich sowohl dem Gesamtprojekt als auch konkreten Einzelabschnitten widmen. Prof. Dr. Bernecker beschrieb, dass sich der Rat, seine Arbeitsweise und Expertise über den Prozess hinweg stark entwickelt hat, flankiert durch lokale Beteiligungsformate und einer digitalen Beteiligung. Prof. Dr. Bernecker betonte, dass die Mitverantwortlichkeit und eigenständige Themenfindung in der Prozessgestaltung durch den Rat elementar für seinen Erfolg waren. Er sagte aber auch klar: Die Beteiligung der Öffentlichkeit erhöht die Qualität der Planung, ersetzt diese aber nicht.
Diskussion und Erfahrungsaustausch in den Gruppenräumen – Spiegel der Diskussionen
Nach den Input-Vorträgen wurden die Teilnehmenden in zwei Gruppenräume aufgeteilt, um sich in einer moderierten Diskussion auszutauschen. Michael Baufeld, Vorstand, und Vera Grote, Vorstandsmitglied der DialogGesellschaft, berichteten aus den beiden Gruppenräumen. Dort wurde angeregt diskutiert und die veranschlagte Zeit reichte nicht aus – trotzdem einigte sich die Runde auf diese Erkenntnisse der Webkonferenz:
- Die aufzuwendenden Ressourcen für einen Bürger:innen-Rat sind überschaubar und mehr als sinnvoll investiert.
- Die direkte und passgenaue Ansprache ist elementar. Junge Menschen können vor allem über digitale Medien erreicht werden, Postsendungen oder Flyer sind für andere Gruppen ideal und mitunter ist es notwendig, direkt vor Ort in Quartieren und Kiezen die Menschen in ihrem Lebensumfeld anzusprechen.
- Einer vermeintlichen Konkurrenz zwischen Bürger:innen-Räten, zivilgesellschaftlichen Gruppen und politischen Gremien kann durch eine klare Rollenverteilung entgegengewirkt werden. Der Bürger:innen-Rat ist Teil des öffentlichen Dialogs und gibt Empfehlungen bzw. fungiert als Politikberatung, hat aber keine Entscheidungsbefugnis. Diese Aufgabe obliegt den repräsentativen Gremien.
- Das Konsent-Prinzip hilft gegen die Tyrannei des Egoismus, auch in Bürger:innen-Räten: https://soziokratiezentrum.org/ueber-soziokratie/grundlagen-der-soziokratie-4-basisprinzipien/konsent/.
Michael Baufeld, Vorstand der DialogGesellschaft, dankte nach intensiven zwei Stunden den Impulsgeber:innen für klare Worte und spannende Einblicke sowie denTeilnehmenden für Ihr Interesse.